Betreff: Tipp von Franziskus
Von: Deutsches@www8.your-server.de, Institut@www8.your-server.de, "fü@www8.your-server.de;r Jugend und Gesellschaft"
Datum: 14 Jul 2004 20:17:34 -0000

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Gesine Schwan, Das zerstörte Tabu
 
 
Ohne ein religiöses Fundament und ohne die Sehnsucht nach Wahrheit verrät die Wissenschaft ihre eigenen Ideale und verkommt zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft. Diese These vertritt im vorliegenden Artikel die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gesine Schwan, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder.

Dass Wissenschaft ausgerechnet Religion bräuchte: Abwegigeres lässt sich wohl nicht denken! Steht Wissenschaft nicht für Freiheit, Offenheit, Neugier, verlässliche Erkenntnis? Geht Religion nicht dagegen mit einengender Autorität, Dogmatik, Gehorsam gegenüber dem Gewohnten und ungeprüftem Glauben einher? Liegt nicht das große Verdienst der Aufklärung darin, die Wissenschaft von der Religion befreit und dadurch erst zu sich selbst gebracht zu haben? Und dennoch halte ich die These dagegen: Die gegenwärtige Wissenschaft braucht Religion zu ihrer Befreiung.
Wissenschaft wird nicht im luftleeren Raum betrieben. Naiv wäre die Vorstellung, die individuelle Neugier der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler spiele die entscheidende Rolle. Weichen stellend wirken vielmehr die Prioritäten derjenigen Personen und Institutionen, die Wissenschaft finanzieren. Je kostenintensiver eine Wissenschaft ist, desto stärker schlagen di! ese Prioritäten durch. Dies gilt insbesondere für die Medizin, die Natur- und die Ingenieurwissenschaften. Der mit Abstand wichtigste Gesichtspunkt, der auch die staatliche Finanzierung (jedenfalls in Deutschland) leitet, ist die absehbare wirtschaftliche Rentabilität wissenschaftlicher Ergebnisse.
Auf der Strecke bleiben dabei die Transparenz der Prämissen und Ergebnisse und ihr Rückbezug auf Gesichtspunkte und Maßstäbe, die von einem umfassenderen Wahrheits- oder Wirklichkeitsverständnis her angelegt werden könnten. Diskussionen darüber können wir in verdienstvollen Feuilletons renommierter Zeitungen verfolgen, die Wissenschaft selbst findet dafür weder eine innere Stimulierung noch die zum Nachdenken nun einmal erforderliche Zeit, da ein daraus entstehendes ökonomisch verwertbares Ergebnis nicht zu erwarten ist. Wissenschaftsfreiheit ist das nicht. Zu ihr gehört die Offenheit, die Kriterien für die Priorität von Feldern der Lehre und der Forschung frei zu prüfen und ! in eigener Verantwortung zu bestimmen – und von solcher Freiheit kann angesichts der Finanzierungsproblematik de facto nicht mehr die Rede sein.

Forschungsfreiheit war einmal
Die mit der Instrumentalisierung einher gehende Partialisierung von Wissenschaft als Zeichen ihrer Unfreiheit findet in den dadurch geprägten Karrieremustern von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine weitere Verstärkung. Wir können die sich rasant vermehrenden Veröffentlichungen inhaltlich nicht mehr überblicken oder einordnen. Die eine Hand weiß nicht mehr, was die andere tut, höchstes Spezialistentum in einer Teildisziplin geht mit höchstem Banausentum in der Nachbardisziplin einher. Was wir erleben, ist eine Instrumentalisierung der Wissenschaft zugunsten von wirtschaftlichen Interessen und ihre Unterwerfung unter partikularistische Gesichtspunkte. Diese Unterwerfung wird durch das Fehlen eines übergeordneten Tabus und einer umgreifenden Wahrheitsverpflichtung begünstigt. Denn nur dieses Tabu böte einer Wissenschaftsentwicklung Einhalt, welche sich Partikularinteressen unterwirft.
Wenn Wissenschaft ihre au! tonome Legitimation durch Wahrheit freiwillig zugunsten der Legitimation durch wirtschaftlichen Erfolg ersetzt, dann gibt es keinen Grund mehr, ihr irgendeine gesonderte Unterstützung oder einen besonderen Schutz zu gewähren. Hochschulen und Forschungsinstitute wären ökonomische Unternehmen, ihre Finanzierung könnte sich nicht mehr durch eine Leistung für die Allgemeinheit begründen. Die freiheitlichen Gesellschaften der Gegenwart sind auf solche Autoritäten angewiesen, weil ohne sie der „Kitt“ eines – überprüfbaren – Vertrauens zerbröselt. Demokratische Freiheit und Autorität, die sich aus Wahrhaftigkeit und Sachkompetenz speist, brauchen einander. Wenn der zentrale Grund für die Unfreiheit gegenwärtiger Wissenschaft im sozial bedingten mentalen Verlust der Verpflichtung auf eine verbindliche und umfassende Wahrheit liegt, dann wäre der Beitrag von Religion, soll sie zur Befreiung von Wissenschaft verhelfen, in einer Rückbindung an die Wahrheitsverpflichtung zu suchen. Als grundlegende Schicht meiner Religionsbestimmung nenne ich die sub jektive Wahrnehmung einer absoluten, die empirische Faktizität transzendierenden Verpflichtung, die sich von einer transzendenten „Instanz“ als normgebendem Vorbild jenseits der sinnlichen Realität herleitet. Dies gilt gerade dort, wo Wissenschaft sich von solchem Mythos unabhängig zu definieren behauptet. Wenn Wissenschaft ihre Verpflichtung auf Wahrheit erhalten will, muss sie sich auf eine wissenschaftstranszendierende, die Endlichkeit überschreitende Legitimation und Verpflichtung beziehen. Dies ist ein religiöser Akt. Warum aber sollten wir uns eine solche absolute Verpflichtung auf die Wahrheit nicht selbst und autonom auferlegen können? Das schon innerhalb der Aufklärung und bis in die Gegenwart diskutierte Problem liegt im Widerspruch zwischen unserer menschlichen Endlichkeit und dem Absolutheitsanspruch unserer Selbstsetzung.
Das westliche Wissenschaftsverständnis haben im wesentlichen zusammen mit der klassischen Antike die drei Offenbarungsreligionen geprägt. ! Dazu gehört zunächst der Glaube an die Welt als eine Schöpfung, die zum Guten angelegt und von Gott in die partnerschaftliche Mitverantwortung der Menschen gegeben ist. Darin zeigt sich deren Gottesebenbildlichkeit. Als Personen, deren Namen Gott kennt, tragen sie Verantwortung für ihr Leben und ihre Entscheidungen, schulden ihm und ihren Mitmenschen dafür Antwort und sind darin in Gottes Liebe und Treue geborgen, auch in ihrem Versagen und auch beim letzten Gericht. Vor diesem Horizont ist Wissenschaft gottgewollt und sinnstiftend. In solchem ganzheitlichen Wahrheitsverständnis ist sie auch Quelle der Freude und des Lebens, weil sich alle Erkenntnis der Welt letztlich auf Gott richtet.

Natur oder Schöpfung
Wenn die Wirklichkeit als Gegenstand von Wissenschaft ebenso wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst als Gottes Schöpfung begriffen werden, hat das Folgen für Forschung und Lehre. Beide sind in die Verantwortung für eine Schöpfung genommen, die als prinzipiell gut gilt und die daher in ihrem Bestand gesichert werden muss. Jeder Eingriff muss sich die Frage nach den Folgen und deren Beherrschbarkeit sowie nach dem Heil für Mensch und Welt stellen. Je weitreichender wir aufgrund des Fortschritts unseres Wissens über die Abläufe der Natur diese technisch zu manipulieren vermögen, desto gravierender stellt sich das Gewicht dieser Verantwortung. Wissenschaft, die die Endlichkeit der Menschen, damit auch ihre Fehl- und Korrumpierbarkeit aus dem Blick verliert, gerät in Schuld.
Der Schöpfungsgedanke konstituiert auch einen wichtigen Unterschied zu einem Grundverständnis, das den Sinn von Wissenschaft vornehmlich darin! findet, wie es Hubert Markl formulierte, die Menschen „von den Schicksalszwängen der Natur zu befreien“. Sich die Erde untertan zu machen, bedeutet nicht, die Grenzen der Natur einfach loszuwerden. Die Alternative besteht eben nicht darin, entweder auf Freiheit und Selbstverantwortung zu bauen oder „sich blind hoffend und leidend dem Naturgeschehen zu unterwerfen“. Vielmehr liegt sie in einer unreflektierten, ungeprüften „Systemzwängen“ und Partikularinteressen unterworfenen, insofern blinden und daher unfreien Naturbeherrschung auf der einen und einer auf Wahrheit als ganzheitlichen Horizont verpflichteten und erst dadurch freien Naturbeherrschung auf der anderen Seite. Einen solchen Horizont bietet die Religion insofern, als ihr gemäß die Sorge um das Ganze der Schöpfung den Wunsch nach Befreiung von blinden Naturzwängen immer begleiten muss. Ein religiös verankertes Wissenschaftsverständnis baut nicht naiv darauf, dass die meisten Forscher sich „wünschen, dass das, was ! sie erforschen, zum Nutzen der einzelnen Menschen wie der Gesellschaft und der Umwelt wirkt“, ohne die erkennbaren sozialen und ökonomischen Zwänge sorgfältig zu prüfen, die die Forschungsrichtungen de facto bestimmen.
Wissenschaft hat aus sich selbst keinen normativen Wegweiser, keine Orientierung am ganzheitlichen Horizont der Wahrheit. Die Religion gibt einzelnen Wissenschaftlern wie den Institutionen zu bedenken, dass Wissenschaft de facto immer in einem größeren Wirkungszusammenhang geschieht und dass es in unserer unaufgebbaren Verantwortung liegt, diesen Zusammenhang, sowohl den innerwissenschaftlichen, als auch den mit der ausserwissenschaftlichen Welt, immer erneut analytisch zu durchdringen. Sie gibt dazu auch den Mut und die Zuversicht, die sich auf Gottes Treuezusage gründen. Beides ist wichtig, weil die einzelnen Wissenschaftler oft eine erhebliche Entscheidungslast drückt.
Sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in der Naturwissenschaft beginnt sich ein Wahrheitsverständnis durchzusetzen, das zum einen Wahrheit als Ge! schehen begreift und an die Wahrhaftigkeit der Kommunizierenden bindet und zum anderen ihre darin eingeschlossene Relationalität akzeptiert. In den Worten von Thomas Kuhn handelt es sich um Paradigmata, an die die Wahrheit einer jeweiligen wissenschaftlichen Aussage gebunden ist und die untereinander inkommensurabel sind. Deshalb ist es unmöglich, wissenschaftlichen Fortschritt als „Wissens-Kumulation“ zu begreifen, mit der wir der wirklichen Natur immer näher kämen. Die Bindung an einen religiösen, absolut verpflichtenden und umfassenden Wahrheitsbegriff lenkt den Blick auf diese Relationalität, die den Wert der Erkenntnis und deren Beschränktheit zugleich aufbewahrt und angesichts der prinzipiell unbeschränkten Paradigmata naturwissenschaftlicher Erkenntnis dem Wirken Gottes einen ebenso unbeschränkten Raum lässt.
Indem Wissenschaft mit der Verpflichtung auf Wahrheit wieder den Grund in den Blick nimmt, warum Menschen eigentlich nach der Erklärung von Wirklichkeit suc! hen, und indem sie erkennt, dass Erklärung ohne die Frage nach ihrem G rund ihrerseits den Boden verliert, wird sie frei von verblendender Enge.

aus: Süddeutsche Zeitung, vom 04.01.2003.

Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutsche Zeitung (www.sueddeutsche.de) und der DIZ München GmbH (www.diz-muenchen.de).



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