Wieso
Mathematik im Architekturstudium – wo ist ihr Platz?
Ein Architekt soll nicht nur ein Designer einer
Phantasiewelt sein. Er soll auch Verständnis und Verantwortungsbewusstsein für
Formen der Realität haben.
Fachspezifische
Erfordernisse oder Bedingungen:
- Architektur und Bau als Technik
stützen sich mit der Technik auf deren Grundlagen, d.h. auf Mathematik und Naturwissenschaften. Diese
Grundlagen müssen daher vermittelt werden um Verständnis von Konstruktion, Bauteilen und technischer
Ausrüstung zu vermitteln. Auf dieser Grundlage ruhen Berechnungen, Sicherheit und Verantwortung.
- Mathematik ist die Sprache
der exakten Naturwissenschaften, aber auch der Human-, Gesellschafts-, Informations- und
ökonomischen Wissenschaften sowie der Geometrie.
Die Architektur bedient sich dieser
Wissenschaften. Hochschularchitekten sollten daher diese Sprache kennen, nicht zuletzt weil
auch technisch-wissenschaftliche Literatur
verstehen können sollten. Ein Architekt muss die Sprache des
Ingenieurs verstehen. Das ist Voraussetzung für Zusammenarbeit und Weiterbildung.
- Zentral wichtige moderne Planungsmethoden stehen auf mathematischer
Grundlage: Optimierung, Erfassung
kritischer Grössen, Statistik
u.s.w. . Methoden technisch-wissenschaftlich anzuwenden bedeutet Methoden, d.h. deren Grundlagen auch verstehen.
- Technik und Beruf ändern schnell. Viele Grundlagen bleiben konstant. (Zur kulturellen Tradition unserer Zivilisation: Seit Euklid hat
seine Mathematik nicht geändert, an
techn. Hochschulen ist sie die gemeinsame Sprache seit der Gründung
der école polytechnique um 1750).
- Methodenkompetenz ist allgemein ohne Mathematik nicht denkbar. Mathematik ist Grundlage von Analyse, Synthese und Simulation auf Hochschulniveau,
was heute im Zusammenhang mit Computern
noch wesentlicher wird.
- Formgebungsprozess, graphische Darstellung oder Präsentation sind Anwendung von Geometrie. Diese ist an einer Hochschule mehr als nur
Schulgeometrie. Geometrie ermöglicht formbasierte
Gestaltung wie auch Beziehung.
Durch Geometrie wird beschriebene
Gestalt transportiert mittels mathematischer Sprache (in Skizzen,
Konstruktionszeichnungen, Plänen oder in Daten). Geometrie muss hochschulgerecht angeboten werden.
- Das Erfassen von funktionalen Zusammenhängen und
von Abläufen erfordert die
Fähigkeiten des logisch-konsequenten abstrakten,
also des mathematischen Denkens,
das geschult werden muss. Damit wird auch das für die Architektur wichtige
problemlösende und analytische
Denken geschult. Auch das kritische
Denken wird hier geformt. Einschätzen
und Bewerten wird hier erlernt.
Ebenso das Erfassen theoretischer,
also abstrakter Faktoren. Mathematik
ist diejenige Wissenschaft, die die Abstraktion, Prozess- und
Systemdenken, Rationalität, Struktur, Transfer, Verknüpfung lehrt. Und sie
ist gleichzeitig die Schule des exakt konkreten, räumlich-geometrischen
Denkens.
- Moderne Informationstechnologien bestehen zu einem Hauptteil aus angewandter Mathematik. Ein
Hochschulabsolvent muss ein Experte sein, denn er muss in der Zukunft bestehen können.
- Mathematik ist eine zentrale Grundlage von technischer
Zivilisation und Kultur sowie
ihres Denkens. Verantwortung tragen ist hier nur möglich
mit Kenntnissen und einem Verständnis in diesem Grundlagefach.
- Mathematik ist auch ein Fach
mit einer eigner Geometrie-Forschung
im Bereich der Architektur.
Einige heute wichtige Aspekte sind zum Beispiel:
- 3D-Digitalisierung (Generierung eines virtuellen
Modells aus einem 3D Objekt, Datenerfassung, Verarbeitung, Objektrekonstruktion
aus Daten)
- Visualisierung und Analyse von geometrischen Objekten (Reflexionen, geom.
Krümmung, Schnitte)
- 3D-Drucke (Rapid Prototyping
Technologien u.s.w.)
- Geometrie und digitale Bildverarbeitung (Extraktionen, morphologische
Operationen)
- Minimalflächen (Anwendungsbeispiele der
Architektur)
- Formen, Fraktale, Chaos und
Architektur
- Mathematik (als Geometrie oder
math. Denken) ist Bestandteil von zugänglichen
Detaillehrplänen staatlicher Architekturhochschulen. („Vermittlung von Grundlagen und
Kenntnissen in den geistes- und naturwissenschaftlich-technischen sowie
sozialwissenschaftlichen Disziplinen“.) Mathematik stiftet Gemeinsamkeit in der Kultur der Bildung.
- Mathematik hat auch ihren Platz in den bildenden Künsten,
wie ein Blick in die Geschichte zeigt (Sakralbau als geometrisches
Wunderwerk, Geometrie-Lehrer wie Dürer, Pacioli, Leonardo, Escher, Vasarely,
der Architekt Semper als Schüler des Mathematikers Gauss u.s.w.). Das
eröffnet der Architektur ein nutzbringendes Feld.
- Bisherige
Praxis: In Mathematik für FH-Architekten (z.B. HTA Biel) auf das Niveau von deutschen
Fachhochschulreife zu führen (u.a. Differential- und Integralrechnung
als Grundlagen). Die schweizerische techn. Berufsmatur wird in Deutschland
wegen fehlender Mathematik nicht anerkannt. Unsere momentane
Aufnahmepraxis: Aufnahme von StudentInnen mit ungenügender mathematischer
Vorbildung. Das Hochschulniveau im Bauwesen in einer technisierten Welt
muss mehr sein als das Sekundarschulniveau mit bürgerlichem Rechnen und
Dreisatz. Es braucht Abgrenzung zu den praktischen Fachschulen.
- Im Dialekt der Frankfurter Schule: Ohne wissenschaftliches
Fundament gilt ein Studium als „an die Hochschule gemogelte Praxis“,
vergleichbar etwa mit der Praxis des Friseurs. Absenz oder Unterdotierung des
exaktwissenschaftlichen Fundaments im Lehrplan überzeugen nicht. Hochschule bedeutet solide
Kontrollmechanismen im wissenschaftlichen Gerüst.
Wo Mathematik im neu vorgeschlagenen Modulkonzept
unterbringen?
- In WERKZEUGE (Geometrie als Werkzeug – Mathematik als Grundlage
und sowie bezüglich Verflechtung mit Informatik)
- In ENTWURFSWISSENSCHAFTEN (Geometrie, mathematische Methoden in
Entwurfstechniken)
- In BAUOEKONOMIE und BAUMANAGEMENT
(zum Teil Ökonomie und vor allem niveaugerechtes Management verwenden
heute die Sprache der Mathematik und math. Methoden: Statistik,
Optimierungen, Entscheidungstheorie, Warteschlangen, kritische Parameter
u.s.w.)
- In BAUTECHNIK (Math. Sprache und math. Verständnis: Grundlage von
Technik (z.B. Statik) und Natw. auf Hochschulniveau)
- In KUNST- und KULTURWISSENSCHAFTEN (Geometrie
und math.-natw. Weltbild in der Geschichte von Kunst und Kultur)
- In UMWELTWISSENSCHAFTEN (Beschreibung,
Simulation komplexer Systeme mit ihren funktionalen Zusammenhängen)
- In WAHLFACH (Mathematik als
gemeinsames Fach aller Studienrichtungen der technischen Hochschule seit
der ersten Gründung durch den Mathematiker Monge unter Louis XIV hat ihren
tradierten Platz)
- Forderung: Mathematik
muss explizit in einen zu
schaffenden Grundlagenmodul (zur zentralen Bereitstellung der notwendigen
Werkzeuge) und ebenso in die genannten Anwendungsmodule
aufgenommen werden.
21.12.04, überarbeitet am 11.2.05 Rolf Wirz